Lesezeit ca. 3 Minuten
Alternative zum Kapitalismus
Von den Rochdale Pioneers bis Hamburgs Baugenossenschaften: Wie die Genossenschaftsidee seit 1844 Selbsthilfe und Teilhabe stärkt.
Die genossenschaftliche Idee wurde in England 1844 von den sogenannten Rochdale Pioneers, einer Konsumgenossenschaft im Großraum von Manchester, entwickelt. Deren Ziel war es, billigere Grundnahrungsmittel den Mitgliedern anzubieten, zumal die örtlichen Krämer schlechte Qualität zu überhöhten Preisen an die Arbeiter verkauften. Die Genossenschaft hatte anfangs nur Butter, Zucker, Mehl und Haferflocken im Sortiment, bald darauf aber schon Tee und Tabak. Als „Gründerväter“ in Deutschland gelten Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883) und Friedrich-Wilhelm Raiffeisen (1818-1888). 2016 wurde die Genossenschaftsidee von der UNESCO in die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen.
In Hamburg ist die Genossenschaftsbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts verwurzelt. „Aber volle Fahrt nahm sie erst im letzten Drittel des Jahrhunderts auf, in Hamburg vor allem durch die Gründung des Konsum-, Bau- und Sparvereins Produktion 1899“, erläutert der 1939 geborene Armin Peter, der lange als wirtschaftspolitischer Referent in Verbänden des Genossenschaftswesens in Hamburg tätig war. Die Hansestadt war auch der Ort der konsumgenossenschaftlichen Zentralorganisationen, zum Beispiel ab 1894 der GEG Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumgenossenschaften. Hier hatte die Großeinkaufsgesellschaft Deutscher Konsumgenossenschaften ihre Zentrale, einst das größte deutsche Lebensmittel-Unternehmen. Noch heute hat der 1903 in Dresden gegründete Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften seinen Sitz in der Hansestadt Hamburg.
Treibende Kräfte zur Gründung der Genossenschaften waren die alten Ideale der Selbsthilfe wirtschaftlich benachteiligter Kreise gewesen, die auf demokratische Selbstverwaltung, basierend auf dem Grundsatz „Ein Kopf – eine Stimme“ setzten. Genossenschaften wurzeln in der liberalen Idee der Selbstermächtigung mündiger Bürger, in dem Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre und wurden von den Frühsozialisten als Instrument einer alternativen Wirtschaftsform zum Kapitalismus aufgegriffen.
Neben der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gehört die Beschaffung von Wohnraum zu den wichtigsten Zielen der Genossenschaftsbewegung. Zu den Impulsgebern gehörten in Hamburg neben Konsumgenossenschaften zum Beispiel die Hamburger Schiffszimmerergenossenschaft als Wohnungsgenossenschaft, die schon 1875 gegründet wurde, und eine Tabakarbeiter-Produktionsgenossenschaft von 1892. Die ersten Wohnungsbaugenossenschaften in Hamburg entstanden in der Zeit der großen, schier unvorstellbaren Wohnungsnot der Arbeiter und kleinen Angestellten in der frühen städtischen Industriegesellschaft. Bis zum Ersten Weltkrieg in der Initialphase, aber auch im Aufbau der Weimarer und der Bundesrepublik hatten sie eine große Bedeutung. Heute sind in der Hansestadt 30 große Baugenossenschaften im Verein Hamburger Wohnungsbaugenossenschaften organisiert. Dessen Mitglieder verfügen über rund 135.000 Wohnungen, in denen 230.000 Menschen leben. Dazu kommen etliche kleine Baugenossenschaften.
Weil es bei einigen Wohnungsbaugenossenschaften bisweilen in Sachen Mitbestimmung und Teilhabe hapert, wurde die Initiative „Genossenschaft von unten“ gegründet. Die offene Gruppe von Mitgliedern unterschiedlicher Hamburger Wohnungsgenossenschaften trifft sich seit 2017 monatlich in den Räumen des Mietervereins.
In Deutschland sind die rund 7.000 Genossenschaften mit 20 Millionen Mitgliedern und einer Million Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die stärkste Wirtschaftsorganisation. Genossenschaftliche Unternehmen sind im Kreditwesen, Handel, Handwerk, in der Land- und Wohnungswirtschaft tätig und mit ihrem Förderauftrag ihren Mitgliedern verpflichtet.
Seit 2014 gibt es in Hamburg das Genossenschafts-Museum im Gewerkschaftshaus. Es zeigt 170 Jahre Genossenschaftsgeschichte mit dem Schwerpunkt auf Konsumgenossenschaften.
Ihre Meinung zählt!
Schicken Sie uns Ihr Feedback zu unseren Artikeln, Themenideen oder Hinweise per E-Mail an briefe@mieterjournal.de – wir freuen uns auf Ihre Ideen und Vorschläge!