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Armut in der Hansestadt
Auf dem ersten Hamburger Armutsgipfel diskutierten über 180 Menschen über Wege zu mehr Teilhabe. Eine obdachlose Teilnehmerin brachte eindrücklich ihre Perspektive ein und forderte echte Lösungen.
Mehr als 180 Interessierte diskutierten im Oktober auf dem ersten Hamburger Armutsgipfel im Haus der Patriotischen Gesellschaft, wie gesellschaftliche Teilhabe für armutsbetroffene Menschen verbessert werden kann. Eingeladen hatten der Sozialverband Deutschland (SoVD), der Mieterverein zu Hamburg, der DGB und Der Paritätische.
Während in den Räumen der Patriotischen Gesellschaft in der Mehrzahl Akademiker und gut situierte Menschen über Armut diskutierten, brachte Erika Heine als einzige obdachlose Teilnehmerin eine persönliche Perspektive ein – auf Einladung des Vorsitzenden des Mietervereins Rolf Bosse, der sie auf einer Tagung kennengelernt hatte. Erika Heine berichtete von ihrem Alltag, der wenig mit dem der Anwesenden zu tun hat: „Ich lebe in einer anderen Realität als die meisten Menschen.“ Zuletzt kreisten ihre Gedanken um eine Ratte, die es sich in der Nähe ihres Schlafplatzes gemütlich gemacht hatte. Heine beklagte, dass Betroffene fast nie zu Veranstaltungen zu Armut und Obdachlosigkeit eingeladen würden, „dabei gibt es ohne uns keine Lösung des Problems“. Deshalb wolle sie weiter „nerven“, denn: „Ich muss die Menschen mit meiner Geschichte berühren, sodass sie ins Nachdenken kommen.“
Ich lebe in einer anderen Realität als die meisten Menschen.
Klaus Wicher vom SoVD Hamburg wies darauf hin, dass Armut nicht nur Randgruppen betrifft: „Jedes vierte Kind und jeder fünfte Einwohner in unserer Stadt gelten bereits jetzt als arm. Die Herausforderungen unserer Zeit verlangen uns immer mehr ab – Inflation, steigende Arbeitslosigkeit, die Streichung von staatlichen Förderungen für neue Berufs- und Lebensperspektiven führen dazu, dass immer mehr Menschen, auch aus dem Mittelstand, immer weniger von ihrem Geld haben. Armut ist schon lange kein Randphänomen mehr!“
Besonders brisant ist das Thema Wohnen. Mietervereinschef Rolf Bosse hob hervor, dass Armut und Reichtum immer weiter auseinanderdriften: „So kann es nicht weitergehen! Es ist die Aufgabe eines demokratischen Staats, angemessene Lebensverhältnisse für alle zu schaffen. Dazu gehört die angemessene Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum.“ Die Beseitigung von Armut sei keine Mildtätigkeit gegenüber den Betroffenen, sondern finde im wirtschaftlichen Interesse unserer Gesellschaft statt, sagte Bosse. Der Staat müsse Wohnraum sichern und Armut als gesellschaftliches Problem anerkennen.
Auch der Arbeitsmarkt trage zur Armut bei, betonte Tanja Chawla vom DGB Hamburg. Sie kritisierte Minijobs, prekäre Arbeit und Langzeitarbeitslosigkeit als Ursachen dauerhafter Armut. Die Diskussion über Bürgergeldempfänger lenke ab, denn: „Nur 0,4 Prozent verweigern zumutbare Arbeit. Gleichzeitig steigt die Zahl der Einkommensmillionäre.“
Ein Highlight war der Vortrag von Ulrich Schneider, dem ehemaligen Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Er sprach von einem „beispiellosen Sozialabbau“, schlimmer noch als zu Hartz-IV-Zeiten. Der Verteilungskampf werde härter – mit Diffamierungen gegenüber denen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Falsche Behauptungen, etwa über Einsparpotenziale beim Bürgergeld oder massenhafte Arbeitsverweigerung, würden gezielt gestreut und beeinflussten die öffentliche Meinung. Dabei sei der Sozialstaat durchaus finanzierbar: Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt sei seit Jahren stabil. Schneider warnte auch vor den Folgen der Armut: gesundheitliche Probleme, geringe Bildungschancen. In Deutschland hänge Bildung stark von sozialer Herkunft ab: 75 Prozent der Akademikerkinder besuchten ein Gymnasium, aber nur 25 Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien. Schneider selbst stammt aus der „Arbeiterklasse“: „Wir hatten zwar keinen Brockhaus, aber doof waren wir auch nicht.“ Er forderte eine Erhöhung des Bürgergelds um 44 Prozent auf 813 Euro und einen Mindestlohn von 15 Euro.
Jörg Sturm von Hinz&Kunzt wies auf das UN-Ziel hin, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden. Doch laut UN-Bericht von 2014 war Deutschland nur zu 17 Prozent auf Kurs. Die Agenda ist nicht bindend – und sei deshalb ein „Papiertiger“. Zwar wurde 2024 ein nationaler Aktionsplan beschlossen, doch dieser sei finanziell unzureichend und gebe keine einklagbaren Rechte.
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