Lesezeit ca. 7 Minuten
Ein Stadtteil zwischen Touristenströmen und Dorfromantik
Touristen-Hotspot und Dorf in der Großstadt: Die Hamburger Neustadt vereinbart die größten Gegensätze scheinbar mühelos. Während am Michel die Reisebusse in langen Reihen halten, wohnen im Ledigenheim Männer in kleinen Wohnungen für wenig Geld. Und auch eine Liebesbrücke sowie den Rest eines Banksy-Graffito gibt es hier. Sascha Bartz, seit mehr als 20 Jahren Quartiersmanager des Stadtteils zwischen Elbe und Alster, weiß zu jeder Straßenecke eine Geschichte zu erzählen.

Mit Sascha Bartz durch Neustadt.
Sascha Bartz zeigt auf eine der letzten Baulücken der Neustadt, die vor einiger Zeit geschlossen wurde. „Sehen Sie: Es gibt fast keinen Spielraum mehr, Neubauten auf leer gebliebenen Grundstücken zu schaffen“, sagt der Quartiersmanager eines Stadtteils, der vom Hafenrand bis zur Alster reicht. In der Hand hält er einen Taschenschirm, den er in diesem Sommer schon öfter aufspannen musste. „Ich komme viel herum. Das ist mir wichtig“, berichtet der 47-Jährige. Hier am Hafentor, direkt neben der U-Bahn Landungsbrücken unterhalb von Elbpark und Stintfang, hat ein Investor Wohnungen und einen Supermarkt gebaut. „Fügt sich gut ein“, so Bartz. Als die 43 Wohnungen, darunter auch geförderter Wohnraum für pflegebedürftige Menschen, 2022 fertig wurden, endete eine 20-jährige Auseinandersetzung um diesen Bau an prominenter Stelle.
Etwa genauso lange ist Sascha Bartz, der mit uns nun in Richtung Portugiesenviertel aufbricht, Quartiersmanager der Neustadt. 2004 begann der Architekt und Stadtentwickler in einem studentischen Nebenjob, aus dem der gebürtige Hamburger eine eigene Firma gemacht hat. Bartz, Dreitagebart und Outdoor-Kapuzenjacke, wird auf unserem Rundgang einige Male von Passanten begrüßt. So auch am Eingang zur Ditmar-Koel-Straße vor der schwedischen Gustaf-Adolfs-Kirche, die Hamburger vor allem durch die stilvollen Weihnachtsmärkte kennen. „Viele, die hier zur Kirche gehen, kommen aus ganz Hamburg und NorddeutschlandC, so Bartz. Auf der anderen Straßenseite sind hier blaue Linien gemalt worden. Innerhalb der Linie dürfen Tische und Stühle stehen, daneben nicht „Das war der erste Ort in Hamburg, an dem es das gab. War zuvor ein ziemlicher Wildwuchs.“ Nun kommen Fußgänger wieder besser durch, selbst wenn vor den Restaurants, Cafés und Bars Hochbetrieb herrscht. Während neben uns durch eine Kellerluke Fisch in Kisten aus Styropor angeliefert wird, erzählt Bartz eine Geschichte erfolgreicher Einwanderung. In die damals noch günstigen Wohnungen der südlichen Neustadt zogen ab den 1960er- und 1970er-Jahren portugiesische Hafenarbeiter mit ihren Familien. Mit dem verdienten Geld eröffnete die zweite und dritte Einwanderungsgeneration gastronomische Betriebe, die heute in keinem Hamburg-Reiseführer fehlen.
„Dieses Nebeneinander verschiedener Wohnformen macht die Neustadt so besonders…“
Da das Gebiet Teil der Sozialen Erhaltungsverordnung ist, konnte die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen größtenteils verhindert werden. Als bunt, vielfältig und vor allem nachbarschaftlich geprägt, nimmt der Quartiersmanager das Viertel immer noch wahr. Die Mieten, sagt Sascha Bartz als wir die Treppe zum Venusberg hinaufsteigen, sind in den vergangenen Jahren dennoch kräftig nach oben geklettert. Durch die Nähe zu Hafen und Innenstadt zahlen neue Mieter fast jeden Preis auf dem angespannten Wohnungsmarkt. Zum Glück für Mietende gibt es auf dem Venusberg viel genossenschaftlichen Wohnungsbau. In den 1950er-Jahren baute die Schiffszimmerer Genossenschaft unter anderem den „Gebhardhof“. Die Backsteinbauten ersetzten einen „Arbeiterschloss“ genannten Block, der im Bombenkrieg zerstört worden war. Neben den Bauten der Genossenschaften gibt es Wohnungen privater Vermieter, SAGA-Gebäude und etliche Stiftswohnungen für Menschen mit wenig Geld. „Dieses Nebeneinander verschiedener Wohnformen macht die Neustadt so besonders in Hamburg.“
Etwas nordöstlich steht die Hauptkirche St. Michaelis. Eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Um 10 und 21 Uhr spielt der Michel-Türmer auf 83 Metern Höhe für den Stadtteil. Wir blicken hinunter auf die Michelwiese mit dem leerstehenden Gruner+Jahr-Gebäude. Der New Yorker Immobilienkonzern Tishman Speyer hat das denkmalgeschützte Haus gekauft und wollte sich schon längst in der Stadtteilkonferenz vorgestellt haben. Hat er aber noch nicht, so Bartz. „Wir sind gespannt, was dort geplant ist.“
Südöstlich des Michels, in der Rehhoffstraße 1, gibt es an der Haustür mehr als 100 Klingelschilder. Das Ledigenheim, 1913 eröffnet, ist ein Wohnhaus für ledige Männer. Als es von einem dänischen Investor gekauft wurde, drohten die Mieter ihre günstigen Wohnungen zu verlieren. Einige großartige Ehrenamtliche aus der Nachbarschaft schafften es durch private Spenden und Unterstützung der Stadt, das Ledigenheim zu erhalten. Der Investor verkaufte es an die von den Unterstützern gegründete Stiftung Ros. Als wir dem Ledigenheim einen Besuch abstatten, treffen wir Antje Block aus dem Vorstand. „Im nächsten Jahr soll das Haus saniert werden. Eine große Herausforderung“, sagt sie. Wichtig ist, dass die Bewohner während der Sanierung in ihren Wohnungen bleiben können.
Während wir an der Ludwig-Erhard-Straße länger darauf warten, dass die Ampel grünes Licht zeigt, wird uns bewusst, dass wir in der Innenstadt sind. Der Verkehrslärm wird von den umliegenden Bürobauten ansonsten gut abgeschirmt. Die Verkehrsachse sorgt dennoch für eine Trennung des Stadtteils. Ein Beispiel: Jugendliche aus dem einen Teil der Neustadt würden nur selten auf die Idee kommen, auf dem Bolzplatz der anderen Seite zu kicken.
Wir sind nun in der nördlichen Neustadt, um auf der Michaelisbrücke Richtung Fleetinsel zu schauen. Was kaum einer weiß, so Bartz: Der Großteil der Insel steht im Privateigentum. Auch ein Grund dafür, dass es auf der Fleetinsel nur wenige Veranstaltungen gibt. Dass die Michaelisbrücke inoffiziell Liebesbrücke genannt wird, verdankt sie den Vorhängeschlössern, die in Massen am Portal hängen. Ansonsten gibt es hier keine Spuren von Overtourism zu sehen. Abseits von Portugiesenviertel und Michel ist es ziemlich ruhig in der Neustadt. „Das kleine Dorf in der Großstadt“, nennt es Bartz. Für Besucher, die mehr vom Stadtteil wissen wollen, hat er den „Hummel-Bummel“ geschaffen. Mit roter Farbe ist der Rundgang auf dem Weg markiert. „Zweimal im Jahr muss ich die Farbe erneuern.“
Bevor wir am Alten Steinweg den Cotton Club links liegen lassen, berichtet uns Bartz, dass der legendäre Jazzclub mittlerweile eine neue Leitung hat. In den 1970er-Jahren gab es rund um den Großneumarkt zahlreiche ähnliche Szenelokale. Das änderte sich um die Jahrtausendwende „von der Nachtökonomie mit Bars und Kneipen hin zu Restaurants und inhabergeführten Läden“, so Bartz. In der engen Steinwegpassage erinnert nur noch die Dachkonstruktion an die erste Einkaufspassage der Stadt. Das Banksy-Graffito „Bomb Hugger“, das der Künstler hier 2002 an einen Betonpfeiler gesprayt hat, ist nur noch zu erahnen. Als jemand eine Flüssigkeit an der Wand entlang kippte, half auch die davor angebrachte Glasplatte nicht. Es geht nun die Wexstraße hinauf zum Großneumarkt. Rund um die Neustadtbude fand hier im August das Neustadtfest statt. Auch Stefan Gwildis, dessen Großmutter in der Rambachstraße eine Kneipe führte, trat auf und blieb nach dem Konzert zum längeren Klönschnack.
Johannes Brahms, der im Gängeviertel in der Neustadt aufwuchs, ist ganz in der Nähe ein Museum gewidmet. Im Komponistenquartier gibt es einen schmalen Gang mit historischen Fotos. Links und rechts ist sowenig Platz wie im Gängeviertel, wo sich durch die katastrophalen hygienischen Zustände Krankheiten besonders schnell ausbreiteten. Für die Nationalsozialisten ein Grund, die mittelalterlichen Häuser abzureißen. Gleichzeitig wollten die Machthaber die Hochburgen von Kommunisten und Sozialisten besser kontrollieren. 1938 wurde inmitten der neuen Backsteinhäuser mit dem von den Nazis bevorzugten Satteldach das Hummel-Denkmal eingeweiht. Der populäre Wasserträger diente als Identifikationsfigur. Dabei wurde nicht vergessen, einige Meter daneben die Figur eines kleinen Jungen, der seinen Mors zeigt, anzubringen.
Unser Guide muss sich nun von uns verabschieden. Er spaziert zu einem weiteren Rundgang ins benachbarte St. Pauli, wo er seit einigen Monaten Nachtbeauftragter ist. Und wer hätte das gedacht: Seinen Taschenschirm hat er in den vergangenen zwei Stunden nicht einmal gebraucht.
Neustadt in Zahlen
- Einwohner: 12.710
- Fläche: 2,2 km²
- Bev. mit Migrationshintergrund: 38,6%
- Wohnungen: 7.931
- Sozialwohnungen: 1.005
- Ø Personen pro Haushalt: 1,5
- Ø Wohnungsgröße: 63,0 m²
- Ø Miete (Neuabschluss): 18,75 Euro/m²
(Quellen: Statistikamt Nord, Gymnasium Ohmoor)
Ihre Meinung zählt!
Schicken Sie uns Ihr Feedback zu unseren Artikeln, Themenideen oder Hinweise per E-Mail an briefe@mieterjournal.de – wir freuen uns auf Ihre Ideen und Vorschläge!